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Eine unterschätze Branche
Sascha Tiede, Bereichsleiter Verkehr, Mobilität, Logistik, Berlin Partner für Wirtschaft und Technologie GmbH | Foto: Berlin Partner – fotostudio-charlottenburg

Eine unterschätze Branche

23. März 2021

Im Gespräch mit Sascha Tiede, Bereichsleiter Verkehr, Mobilität, Logistik, Berlin Partner für Wirtschaft und Technologie GmbH

Der Lieferverkehr in Berlin boomt. Das können wir an den vielen Kleintransportern von DHL, Hermes und Co. beobachten, die jeden Tag durch die Straßen Berlins fahren. Doch wie viele Unternehmen sind tatsächlich in der Stadtlogistik tätig, wie viele Mitarbeiter haben sie? An welchen Ideen wird im Bereich der sogenannten „letzten Meile“ bereits in Wirtschaft und Wissenschaft gearbeitet? Ein Blick hinter die Kulissen der Branche bot uns Sascha Tiede von Berlin Partner.

Welchen Stellenwert hat die Logistikbranche in Berlin? Wie viele Unternehmen sind in der Branche angesiedelt?

Logistik erscheint – nicht nur in Berlin – manchmal eine unterschätzte Branche zu sein. Die Bundesvereinigung für Logistik berechnete für 2019 einen branchenübergreifenden Umsatz von rund 279 Milliarden Euro. Fast jedes Unternehmen betreibt Logistik. Zumindest innerbetrieblich. Jeder Konsument will seinen Joghurt im Kühlschrank finden – fragt sich aber selten, wie das Produkt an seinen Bestimmungsort kommt. Dabei fällt eine Schätzung der Anzahl der Logistik-Unternehmen schwer. Das Statistische Landesamt veröffentlicht diese Zahlen nicht. Auch die Zählung der auf Logistikprozesse spezialisierten Unternehmen ist fragwürdig. Zählt man den selbständigen Apothekenkurierfahrer oder Pizzaausfahrer genauso wie die Branchengrößen DHL, Hermes oder Amazon Logistics? Die Bundesvereinigung Logistik veröffentlicht auf ihrer Homepage, dass bundesweit 60.000 Unternehmen im Bereich Logistik angesiedelt sind – wir gehen davon aus, dass ein erheblicher Anteil bei uns in Berlin einen Sitz hat.

Wie viele Menschen sind in diesem Bereich tätig?

Das Logistiknetz Berlin-Brandenburg (LNBB) und wir schätzen, dass ca. 200.000 Beschäftigte in der Hauptstadtregion in der Logistikbranche tätig sind. Interessant ist, dass die Schätzung der Gesamtzahl der Beschäftigten über die letzten Jahre ungefähr gleichgeblieben ist, wobei man ja erst einmal annehmen könnte, dass diese gestiegen sei – alleine durch den stark wachsenden Online-Handel. Die Erklärung dafür ist eine inhaltliche Veränderung der Logistik-Jobs durch die Digitalisierung der zunehmend hochautomatisierten Hochregallager in den Güterverteilzentren und den wachsenden Bedarf an Fahrern in den Liefer- und Kurierdiensten.

Wie sieht es bei den Lastenrädern aus? Handelt es sich hierbei schon um eine Alternative, die auch genutzt wird?

Lastenräder werden in zunehmendem Maße eine gute Alternative zu Kleintransportern – und auch entsprechend genutzt. Als neue Fahrzeugklasse hatten und haben sie natürlich mit ihren Startschwierigkeiten zu kämpfen – zum Beispiel bei qualitativ minderwertigen Bikes mit Rahmenbrüchen bei (schwingenden) Belastungen. Verfügbarkeit und Kosten waren daher nicht immer wie gewünscht. Aber gerade in Berlin sind innovative Start-ups wie ONO und CITCAR entstanden, welche hochwertige Bikes mit einer guten Nutzbarkeit anbieten. Dies wird den Markt erheblich verändern, was man bereits jetzt an den Lieferzeiten bemerkt.

Welche Potenziale birgt die Branche? Welche Konzepte werden in Wissenschaft und Forschung erarbeitet? An welchen Entwicklungen wird in den Berliner Start-ups gearbeitet?

Industrie und Konsumenten benötigen eine funktionierende Logistik. Wenn sich Rahmenbedingungen ändern, wie beispielsweise der Wunsch der Konsumenten nach einer Verbesserung des Wohnumfelds durch Straßenrückbau, werden neue Lösungen und Innovationen benötigt. Dabei wird es nicht das eine passende Logistikkonzept für alle Eventualitäten geben, sondern verschiedene Lösungen für unterschiedliche Fragestellungen. So gibt es innerhalb des S-Bahnrings andere Rahmenbedingungen als außerhalb. In neuen Stadtquartieren oder in der Nähe von Verkehrsknoten sind die Anbindungen häufig anders als in historisch gewachsenen Kiezen oder in Ortsteilen mit vielen Einfamilienhäusern. Für kleine Transportgüter wird eine andere Logistik benötigt als für die große neue Einbauküche.

Ein weiterer Trend ist, dass die Sendungen zunehmend kleinteiliger werden. Plattformen bündeln Transportmengen und erhöhen damit die Effizienz. Cargobikes und Fahrzeuge mit alternativen Antrieben, dazu zähle ich auch die Elektromobilität, verbessern die Umweltbilanz der Transporte. Kleinteilige Lieferungen erhöhen die Servicewahrnehmung durch die Logistik – und damit vielleicht auch die Wertschätzung und den Preis, den uns verträgliche Logistik wert ist. An all diesen Themen arbeiten Start-ups. Etablierte Beispiele dafür sind Auto1 und Sennder. Unternehmen wie ONO, Citcar, Cycle Logistics, Instafreight und Byrd sind ebenso interessant.

Was halten Sie von sogenannten Mikro-Depots? Liegt darin eine Chance, um die Stadtverträglichkeit der Logistik in Berlin zu erhöhen?

Richtig angewandt wird das einen spürbaren Beitrag für eine lebenswerte Stadt bringen. Mikro-Depots können an den natürlichen Wegen der Kunden liegen und so einen Self-Service ermöglichen oder auch lokale Bündelungen für wohnortnahe Lieferwege. Mikro-Depots eignen sich häufig für die Anlieferung mit umweltfreundlichen Cargobikes. Dabei sollten wir noch innovativer werden wo und wie Mikro-Hubs angelegt werden können. Projekte wie KoMoDo oder auch der Kiezbote zeigen mögliche Perspektiven. (aw)